Szenarien für Klimaneutralität in Deutschland und Frankreich

Das Energiesystem der Zukunft

Klimaneutralität

Deutschland und Frankreich befinden sich in einer Phase der Transformation, in der die Weichen für ein klimaneutrales Energiesystem gestellt werden. Angesichts des voranschreitenden Klimawandels und des Krieges in der Ukraine muss diese Transformation schnell umgesetzt werden. Die Deutsche Energie Agentur (dena) und die französische Agentur für den ökologischen Wandel (ADEME) haben Systemstudien erstellt, die zeigen, wie dieser Wandel in Deutschland und Frankreich gelingen kann. Ein Vergleich der Studien zeigt, dass Frankreich und Deutschland, trotz teils unterschiedlicher Strategien, die Transformation nur miteinander und gemeinsam mit den Europäischen Nachbarn meistern können.

Den Weg in die Zukunft weisen

Das Europäische Ziel – Treibhausgasneutralität bis 2050 – steht fest. Doch der Weg dorthin erfordert eine schnelle, tiefgreifende Transformation aller Sektoren: Strom, Wärme, Industrie und Verkehr müssen unabhängig von fossilen Energieträgern werden und die Landwirtschaft muss ihre Methan- und Stickoxid-Emissionen reduzieren. Dazu müssen die Energieeffizienz verbessert, die Energiequellen klimaneutral und das Konsumverhalten angepasst werden. Frankreich will bis 2050 klimaneutral werden, Deutschland schon 2045.

Wie genau das gelingen kann, haben die französische Agentur für den ökologischen Wandel (ADEME) und die Deutsche Energie-Agentur (dena) in umfangreichen, vorausschauenden Systemstudien für Frankreich und Deutschland untersucht:

  • ADEMEs Studie „Transition(s) 2050“ wurde 2021 veröffentlicht und durch mehrere weitere Studien zu Fokusthemen ergänzt, z. B. zum Strommix, zu Metallen der Energiewende, zu makroökonomischen Auswirkungen, zu Böden, zur Anpassung an den Klimawandel sowie die Wahrnehmung der Szenarien durch eine Gruppe von 31 Bürgerinnen und Bürgern. Sie zeigt mehrere Wege auf, wie Frankreich die europäischen Ziele der Klimaneutralität bis 2050 erreichen kann, und bildet eine wichtige Grundlage für die Ausarbeitung der neuen Energie-und Klimastrategie (SFEC), die 2023 verabschiedet werden soll.
  • Die dena-Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität wurde im Oktober 2021 veröffentlicht und zeigt in 84 Handlungsempfehlungen, wie Deutschland bis 2045 klimaneutral werden kann. Sie liefert konkrete Vorschläge, wie die Energiewende in allen Sektoren schnell voranschreiten kann und ist damit eine wichtige Informationsquelle für die neue Bundesregierung.   

Ein Ziel – unterschiedliche Wege

Frankreich und Deutschland haben ein gemeinsames Ziel: Klimaneutralität. Doch der Weg dorthin unterscheidet sich aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen und politischer Debattenlagen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Strategien in beiden Ländern spiegeln sich auch in den Studien der Energieagenturen wider.

Beide Studien beruhen auf einer Multi-Kriterien-Analyse und haben zum Ziel, die Transformation in allen Sektoren und in ihrer Wechselwirkung abzubilden.

Die ADEME-Studie nimmt vier Szenarien mit den Zeithorizonten 2030 und 2050 in den Blick, die jeweils sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. So werden sowohl Szenarien untersucht, die eine starke Verhaltensänderung der Menschen voraussetzen, als auch solche, in denen technologischer Fortschritt auftretende Probleme lösen soll. Die Studie behandelt nicht nur das Thema Energie, sondern ein breites Spektrum an ökologischen Fragestellungen, unter anderem Transport, Wohnen, und Ernährung. Auch soziale Aspekte spielen in der Studie eine hervorgehobene Rolle, unter anderem, weil die Frage der Akzeptanz von Maßnahmen in Frankreich ein zentrales Thema ist. Die Studie bezieht alle Treibhausgase einschließlich der nicht-energetischen Emissionen ein und modelliert auch die landwirtschaftliche Produktion und Viehbestände, die forstwirtschaftlichen Produktion, Verwendungsmöglichkeiten von Biomasse und biologischen CO2-Senken.

Die dena-Leitstudie liefert eine praxisorientierte Perspektive, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen und betrachtet dabei ein Szenario, in dem Klimaneutralität bis 2045 und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von 65% bis 2030 erreicht werden. Die Parameter des Szenarios wurden im Rahmen eines umfangreichen Dialogs mit der Energiewirtschaft und zivilgesellschaftlichen Akteuren erarbeitet und in 4 verschiedenen Ausprägungen, entlang der Dimensionen Effizienz und Elektrifizierung untersucht.

Die deutschen und französischen Stromsysteme beginnen von unterschiedlichen Ausgangspunkten. Während in Frankreich die Kernenergie eine zentrale Rolle bei der Stromerzeugung spielt und so die Treibhausgasemissionen im Stromsektor relativ niedrig sind, hat Deutschland bereits einen Großteil seiner Reaktoren stillgelegt und wird voraussichtlich bis Ende 2023 komplett aus der Kernenergie aussteigen. Noch ist Deutschland deshalb zu großen Teilen auf fossile Energieträger wie Kohle angewiesen, speist aber bereits heute sehr hohe Anteile (über 40 %) größtenteils variabler erneuerbarer Energien in das Stromnetz ein.

Beide Studien sehen in ihren Szenarien ein starkes Wachstum der erneuerbaren Energien vor. So sieht das ADEME Szenario einen Anteil erneuerbarer Energien in Frankreich bis 2050 zwischen 72 % und 97 % am Strommixes vor. Darüber hinaus wird in einem Szenario gezeigt, dass Offshore-Windkraft eine wirtschaftliche Alternative zu neuen Kernkraftwerken bilden kann.

Die dena-Leitstudie errechnet bis zum Jahr 2030 einen Anteil erneuerbarer Energien an der Bruttostromnachfrage von 68 %. 2045 sollen Wind und Solarenergie 85 % des Bruttostrombedarfs decken.

Beide Länder werden also in erheblichen Maße Photovoltaik und Windkraft ausbauen. Die erneuerbaren Stromkapazitäten müssen sich dazu bereits bis 2030 mehr als verdoppeln. Diese Entwicklung wird sich aufgrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine und den politischen Zielen der neuen Bundesregierung voraussichtlich noch weiter beschleunigen. So soll der Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland bereits 2030 auf 80% und 2035 auf annähernd 100 % gesteigert werden.

Klimaneutral erzeugter Wasserstoff ist zentral, um Prozesse, die heute fossile Grundstoffe nutzen, davon unabhängig zu machen und um nur schwer oder nicht zu elektrifizierende Bereiche wie zum Beispiel den Flug- und Schiffsverkehr sowie Teile der Industrie zu dekarbonisieren. Klimaneutral erzeugter Wasserstoff wird also in großen Mengen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich benötigt werden.

ADEME prognostiziert in allen betrachteten Szenarien eine starke Steigerung der Wasserstoffproduktion zwischen 2015 und 2050 (36 bis 96 TWh), wobei Wasserstoff außer in dem Szenario S3 (mit 50 % Import) ausschließlich in Frankreich erzeugt wird. Mit Ausnahme des Szenarios S3 wird Wasserstoff lokal und bedarfsnah (für die Industrie oder die Mobilität) produziert, ohne dass eine Wasserstoffinfrastruktur erforderlich ist. Synthetisch erzeugtes Methan wird in bedeutenden Mengen produziert und in das Erdgasnetz eingespeist, um das Stromsystem flexibler zu machen und den Energieträger Gas weitgehend zu dekarbonisieren (in 3 von 4 Szenarien zu mehr als 80 % dekarbonisiert).

In der dena-Leitstudie steigt die Elektrolysekapazität in Deutschland bis 2030 auf 5 GW und bis 2045 auf 24 GW. Doch ein Großteil, rund 600 TWh, des benötigten Wasserstoffs und seiner Derivate wird aus Europa und dem außereuropäischen Ausland importiert werden. Deshalb spielt hier der Ausbau einer europäischen Wasserstoffinfrastruktur eine größere Rolle.

Beide Studien sehen eine effizientere Nutzung von Energie als zentral an, um die Klimaziele schnell zu erreichen und die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren. Deshalb rechnen beide Studien mit einer umfangreichen Elektrifizierung vor allem im Personenverkehr, im Wärmebereich und in der Industrie.

Der Nettostrombedarf in Deutschland wächst laut dena-Leitstudie von 513 TWh im Jahr 2018 auf 617 TWh in 2030 und auf bis zu 724 TWh im Jahr 2045. Damit entfallen 31% des Endenergiebedarfs im Jahr 2030 auf Strom. Zentrale Treiber sind die Erhöhung von strombasierten Prozessen in der Industrie, der Zuwachs an Wärmepumpen im Gebäudesektor sowie der Umstieg auf Elektromobilität im Verkehrssektor.

In Frankreich kann der Anstieg des Stromverbrauchs im Gebäudesektor und in der Industrie durch Wärmepumpen und durch neue Produktionsprozesse sowie durch die Verbesserung der Energieeffizienz begrenzt werden. Im Verkehrssektor wird der Stromverbrauch durch die Entwicklung der Elektromobilität steigen. Bis 2050 erwartet die Studie zwischen 20 Mio. und 40 Mio. elektrische Fahrzeuge im französischen Fahrzeugbestand.

Der Stromanteil am Endenergieverbrauch steigt je nach Szenario von heute 27% auf 47-62% im Jahr 2050. Dieses Wachstum des relativen Stromanteils führt jedoch nicht in allen Szenarien zu einem Anstieg des Gesamtverbrauchs.

Insgesamt entwickelt sich der Stromverbrauch in Frankreich je nach Szenario unterschiedlich: von heute 468 TWh auf 408 TWh im Jahr 2050 im sparsamsten Szenario und auf bis zu 839 TWh im verbrauchsstärksten Szenario.  Der Endenergieverbrauch ist in den Szenarien etwa doppelt so hoch (790 TWh bis 1.360 TWh) und ist damit niedriger als heute (1.772 TWh).

Während der Bruttostromverbrauch in Deutschland von heute rund 600 TWh auf 910 TWh in 2045 steigt, halbiert sich laut der dena-Leitstudie der Primärenergieverbrauch von heute 3645 TWh auf 1797 TWh und der Endenergiebedarf sinkt von 2489 TWh auf nur noch 1477 TWh.

Die europäische Zusammenarbeit spielt in beiden Studien eine wichtige Rolle bei sektorübergreifenden Maßnahmen zum Beispiel beim CO2-Preis, der Festlegung gemeinsamer Standards und bei der Entwicklung der Infrastruktur.

Für ein stabiles auf erneuerbaren Energien basierendes Stromsystem, ist der Austausch mit den Europäischen Nachbarländern von großer Bedeutung, denn so können Erzeugungsdefizite oder Überschüsse zwischen den Ländern ausgetauscht werden. Die Studie der ADEME sieht einen Ausbau der Verbindungsleitungen zu den Nachbarländern von bis zu 45 GW im Jahr 2050 vor. Die dena-Leitstudie verdeutlicht, dass die Energiewende stärker europäisch gedacht werden muss und betont die notwendige Weiterentwicklung der EU-Rechtsrahmen.

Fazit

Die Szenarien von dena und ADEME für den Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem unterscheiden sich aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen der beiden Länder. Doch wesentliche Gemeinsamkeiten sind deutlich zu erkennen:

  • Der Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gehört in beiden Ländern zum Leitthema der Energiepolitik.
  • Die Elektrifizierung neuer Anwendungsbereiche und die Erhöhung der Energieeffizienz stehen in Mittelpunkt beider Studien und gelten als wesentliche Voraussetzung für den erfolgreichen Umstieg auf ein treibhausgasneutrales Energiesystem.
  • Wasserstoff wird vor allem in der Industrie eine wichtige Rolle spielen.
  • Unser Verhalten muss sich anpassen, sodass Ressourcen effizienter und sparsamer genutzt werden. Dafür müssen wirksame politische Anreize geschaffen werden, die kollektive Verhaltensänderungen begleiten.
  • Die Entscheidung über einen Kurs muss schnell getroffen werden, denn je länger es dauert, desto schwieriger und kostspieliger werden die umzusetzenden Maßnahmen.
  • Natürliche und technische CO2-Senken werden eine wichtige Rolle spielen, um Klimaneutralität zu erreichen. Die ADEME-Studie hebt hier die zentrale Rolle der Biomasse hervor, deren Einsatz sich in allen Szenarien verdoppelt, sowie ihre Interaktion mit biologischen CO2-Senken, deren Wachstum notwendig ist, um die Klimaneutralität zu erreichen. Bislang gibt es nur wenige öffentliche Maßnahmen zur Stärkung dieser Senken. Die dena-Leitstudie untersucht in einem Kurzgutachten die Potenziale technischer Senken

Die Studien wurden noch vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine erstellt. Angesichts des Krieges in der Ukraine ist klar, dass Europa noch schneller von fossilen Energieträgern unabhängig werden und deshalb die Transformation beschleunigen muss. Um unsere Abhängigkeit von Öl und Gas bis zum nächsten Winter zu verringern, ist kurzfristig eine sparsame Nutzung von Energie (Heizung, Mobilität) die am schnellsten umzusetzende Lösung, sowohl in Frankreich und Deutschland als auch auf international. Auch in der Studie „Transitions 2050“ ist Energiesparen die am schnellsten umzusetzende Möglichkeit, um die Emissionen vor 2030 zu senken. Gleichzeitig ist es jedoch notwendig, umfangreiche Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz in Gebäuden und in der Industrie zu ergreifen, um unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen dauerhaft zu verringern und Komforteinschränkungen und die Auswirkungen steigender Energiepreise abzufedern.

Auch wenn also die in den Studien gezeigten Transformationspfade bereits teilweise durch politische Entscheidungen überholt sind, zeigen sie doch wie das Zielbild eines klimaneutralen Europas erreicht werden kann und welche Maßnahmen uns auf dem Weg dorthin voranbringen.

Bildquelle: Getty Images/Andriy-Onufriyenko